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Marge Piercy: Frau am Abgrund der Zeit. Übersetzt von Norbert Werner und Hertha Zidek. Heyne: München, 1986. 463 Seiten.

Hier findet ihr meinen Eindruck von Piercys Roman „Er, Sie und Es“.

„Frau am Abgrund der Zeit“ handelt von Consuelo („Connie“) Ramos, einer Latina in den USA der 1970er Jahre, die richtig viel Scheiße erlebt hat und im Verlauf des Buches noch mehr davon erleben wird. Rassismus und Sexismus in ihrer übelsten Art, sowie schlimme Psychatrieerfahrungen und krasse Armut spielen dabei eine Rolle. Das Buch ist bekannt dafür, dass Piercy hier eine harte Psychatriekritik formuliert. Ich fand diesen kompletten Erzählstrang ziemlich holzschnittartig, vorhersehbar, stereotyp und dadurch schlicht langweilig (und nervig) (und gegen Ende auch so grauenvoll und gewaltvoll, dass ich ihn kaum weiter lesen konnte). Das macht aber nichts, denn: Das Besondere an diesem Buch ist seine Zukunftsebene! Connie ‚rutscht‘ immer wieder in eine Zukunft hinein, macht sie nun wirklich Zeitreisen oder imaginiert sie sich eine eine bessere Welt herbei – egal! Piercy zeichnet hier ganz liebevoll das Bild einer utopischen Gesellschaft, in der durchaus nicht alle Probleme gelöst sind, dafür aber zauberhafte Ideen und Grundvoraussetzungen für ein sinnvolles und liebevolles Miteinander gegeben sind.

Ich selbst schiebe das Schreiben dieses Artikels schon seit Monaten vor mir her, weil ich Markierungen im Buch gemacht habe und euch die utopische Gesellschaft Piercys perfekt durchanalysieren wollte. Nun, diese Pläne können wir abschreiben. Das wird nix mehr. Mut zur Lücke! Ich erzähle euch jetzt einfach locker-flockig alles, was mir noch einfällt, denn das, meine lieben Leser_innen, ist 100% mehr als Nichts! \o/

Also, *trommelwirbel* hier kommen X Aspekte der utopischen Gesellschaft aus „Frau am Abgrund der Zeit“:
0) Politische Organisation: Piercys Utopie ist in Räten organisiert, die jeweils ein bestimmtes Thema bearbeiten, dazu Entscheidungen treffen und handeln. Wer in den Räten sitzt, wird in regelmäßigen Abständen neu gewählt und nach einer gewissen Zeit ist eine bestimmte Person für den Rat ‚verbrannt‘. Egal wir gut die Arbeit war, die die Person geleistet hat, länger als X Jahre wird sie nicht im Rat bleiben. Es gibt mehrere Räte mit verschiedenen Aufgabengebieten, wahrscheinlich ähnlich unserer Ministerien, aber ohne dass innerhalb der Räte und über den Räten noch mal eine Hierarchie herrschte. Hier wird diskutiert bis zum Konsens. Wer schon mal auf einem linken Plenum war, weiß wie nervenaufreibend und schwierig und manchmal schlichtweg unmöglich das ist. Das weiß Piercy aber offensichtlich auch, die Ratssitzung, die im Buch beschrieben wird, ist eine der witzigsten Szenen, ich musste echt sehr schmunzeln und an das heimische linke Zentrum denken, hihi. Ein wichtiger Aspekt ist auch, dass die Ratsmitglieder weiterhin ganz normale Bürger_innen bleiben und arbeiten müssen wie alle anderen auch. Geld gibt es in dieser Zukunft ohnehin nicht mehr und so halten sich die Vorteile, die eins durch die Ratsmitgliedschaft hat, sehr in Grenzen. Machtausübung ist also weniger erstrebenswert als eher eine lästige Pflicht für Streber_innen, die die Gesellschaft noch besser machen wollen.
1) Fortpflanzung: Sie ist abgeschafft! \o/ Zumindest im klassischen Sinne. Embryos werden synthetisch hergestellt aus einem reichen DNA-Pool und nur dann, wenn jemand gestorben ist und somit ein Platz im Gesellschaftsgefüge frei geworden ist; oder wenn neue Technologien erfunden wurden, die erlauben, dass mehr Menschen essen/leben/wohnen können, ohne die Umwelt zu schädigen. Das ganze Gesellschaftssystem ist nämlich in einem Zustand absoluten Gleichgewichts, mit sich und der Umgebung/Natur. Bevölkerungswachstum würde dieses Gleichgewicht potenziell ebenso gefährden wie Bevölkerungsrückgang und durch diese technische Errungenschaft kann eine solche Bevölkerungspolitik betrieben werden, ohne dass dabei sexistische, klassistische, rassistische Mechanismen zum Zuge kommen, wie etwa die Herdprämie oder Kämpfe um Il_Legalität von Abtreibung, oder gar Zwangssterilisationen. Euch kommt das haarsträubend vor? Ich finde das wunderbar. Kein Mensch muss seinen Körper mehr den Strapazen einer Schwangerschaft/Geburt aussetzen. Kein Mensch, der geboren wird, hat dieses oft so repressive, oppressive Band zu den zwei Menschen, die ihn gezeugt haben. Alle(ALLE) können unbeeinträchtigt von der Angst vor einer Schwangerschaft Sex haben, denn jedes Embryo ist von Anfang an unfruchtbar, egal welches Geschlecht es hat.
2) Erziehung: Es gibt ein weiteres Kriterium, das erfüllt sein muss, damit ein neues Embryo hergestellt wird. Und zwar müssen sich drei(DREI) Personen bereit erklären, gemeinsam den Hauptteil der Verantwortung und Erziehungsarbeit für den neuen Menschen zu übernehmen. Das heißt nicht, dass sie damit dann allein sind, denn alle neuen Menschen sind immer auch eine Verantwortung der gesamten Gemeinschaft und im Kinderhaus verbringen die Kleinen eh die meiste Zeit mit Altersgenoss_innen. Zur Erziehung gehört auch, dass sie sich je nach Fähigkeiten und Interessen an den normal anfallenden Arbeiten beteiligen und dabei alles lernen, was ein Mensch in jener utopischen Gesellschaft wissen/können muss. Es gibt hierbei keine strikte Trennung zwischen Arbeit und Spiel, denn spielerisch lernt eins und die Arbeit ist sinnvolle Arbeit und keine Lohnarbeit. Die Kinder sind auch frei, ihre Sexualität zu erkunden und auszuprobieren, wobei in der Erziehung großer Wert darauf gelegt wird, dass jedes Kind ein gutes Gefühl für die eigenen Bedürfnisse UND die eigenen Grenzen bekommt. Grenzüberschreitungen kommen laut einer erziehenden Person selten bis nie vor, und wenn doch gelten sie als schwerer Verstoß. Ich erinnere mich im Detail nicht mehr, wie damit umgegangen wird, weiß aber noch, dass ich mir nur schwer ein Bild davon machen konnte, ob das funktionieren würde, denn die Prämissen dort sind einfach ganz andere –>
3) Geschlecht: Piercy erfindet für die Figuren in der Zukunftsebene das Pronomen „person/per“. DENN die Geschlechterordnung ist aufgehoben. Unsere Protagonistin Connie bezieht sich auf die Figuren aus der Zukunft immer mal wieder mit ihren ‚alten‘ Geschlechtsmustern, muss aber auch immer wieder feststellen, dass die Personen ihren Vorstellungen in dieser Hinsicht meist nicht entsprechen. So können zB auch alle Personen, unabhängig von Geschlecht ebenso wie von körperlicher ‚Ausstattung‘, wenn sie wollen, die Aufgabe des Stillens übernehmen. Sie bekommen dann ein bestimmtes Präparat (vielleicht Hormone?) und schwupps, sind sie in der Lage zu Stillen. Dies nur als ein Beispiel. Geschlecht spielt im gesamten öffentlichen wie privaten Leben einfach keine Rolle, es existiert als Kategorie überhaupt nicht.
4) Liebe: Die gute Nachricht: Die romantische, monogame Zweierbeziehung als einziges, vorherrschendes, unausweichliches Beziehungsmodell ist abgesetzt. Die schlechte Nachricht: Sie ist jetzt quasi verboten. Dies ist tatsächlich ein Bereich, wo mir scheint, Piercy hat eine Radikalität gesucht und ist ein wenig übers Ziel hinaus geschossen. So berichtet Luciente (die wichtigste Figur aus der Zukunft), dass sie die Beziehung zu einer geliebten Person abbrechen musste, weil sie zu innig, zu verliebt, zu fixiert aufeinander waren und das nicht geduldet wird (es gibt einen Rat für Beziehungsprobleme, der sich um sowas kümmert!). Ebenso gibt es in der Dreierkonstellation zwischen Luciente, Jackrabbit und den dritten Namen habe ich vergessen, momentan Eifersuchtsprobleme und der Rat verdonnert Jackrabbit und Namevergessen dazu, miteinander Zeit zu verbringen, um nicht mehr eifersüchtig aufeinander zu sein.
5) Kriminalität&Strafe: Ganz haben sie es noch nicht geschafft, eine perfekte Gesellschaft ohne Verbrechen zu sein. Grenzüberschreitungen gegenüber anderen Personen zum Beispiel finden zwar sehr selten aber doch noch statt. Die Aggressor_innen bekommen eine Art Therapie, mit Gesprächen und mit körperlicher Arbeit (die aber auch alle anderen machen, also jetzt nicht so Arbeitslager-mäßig). Je nach Schwere der Übertretung müssen sie auch den Ort wechseln. Dies gilt auch und sogar bei Mord. Mordet eins jedoch mehrmals – folgt irgendwann die Todesstrafe. Auch zu diesem Thema gibt es einen Rat, der jeweils in enger Kommunikation mit den Opfern, bzw. deren Angehörigen, sowie auch den Nahestehenden und Angehörigen der Täter_innen steht, um über Konsequenzen zu entscheiden. Es geht hierbei nicht um Strafe, sondern um Re-Integration und darum, wie und warum jemand so etwas tun konnte und zu verhindern, dass dies noch einmal geschieht.

Es gibt noch viele tolle, anregende und inspirierende weitere Aspekte dieser utopischen Gesellschaft. Ich kann euch die nicht alle erzählen. Das Buch gibt es zB bei Booklooker, leider nicht mehr so günstig wie ich es ersteigert habe. Ich wäre aber auch bereit, es zu verleihen. Meldet euch ruhig bei mir.